Historische Einsichten in föderale Verfassungsstrukturen

Wieder einmal strebt die Europäische Union an, sich zu erweitern; die Ukraine, Moldau, der Westbalkan
sollen, auf lange Sicht, in die Gemeinschaft integriert werden. Fragen nach deren innerer Reform stellen
sich darum umso drängender. Vorschläge gibt es viele, solche und solche. Historische Erfahrungen
können bei deren Einsortierung helfen. Cambridge-Historiker Oliver Haardt findet interessante
Parallelen zu einem seiner Forschungsgebiete: dem deutschen Kaiserreich
.
– Zum Vortrag beim VDSt Karlsruhe, 22. Juni 2022.

Im Umfang der Bücher hat Haardt mittlerweile zu seinem Lehrer Christopher Clark aufgeschlossen.
„Bismarcks ewiger Bund“ fällt mit beinahe tausend Seiten in die Kategorie der publizistischen
Schwergewichte. Haardt erzählt die Geschichte des Kaiserreichs darin als Verfassungsgeschichte,
vom Gründungsmythos des ewigen Fürstenbundes bis zur späteren Wirklichkeit einer unitarischen
Reichsmonarchie mit mächtigem Reichstag, in dem der Bundesrat, als Sitz der Souveränität und
Bollwerk des Föderalismus konzipiert, nurmehr ein Schattendasein führt und um zum Anhängsel der
(de facto) Reichsregierung herabsinkt. Haardt sieht die Verfassung nicht als starres Rechtsdokument,
sondern als „ideellen Schrein“, „Speicher von Ideen“ – und als überaus wandelbar.

Erstaunliche Ähnlichkeit

Der Referent verglich in Karlsruhe das Kaiserreich nun einerseits mit anderen bekannten Bundesstaaten,
der Schweiz und den USA, andererseits mit der heutigen Verfassung der Europäischen Union,
dem „komplexesten Föderalsystem der Gegenwart“; fand markante Unterschiede wie auch frap-
pierende Ähnlichkeiten. Um nur von der EU zu reden: auch sie durchläuft einen Unitarisierungsprozess
,hat eine zusammengesetzte Verfassung aus mehreren Verträgen, keine offizielle Regierung,
dafür eine kollektive Exekutive mit Kommission und Ministerrat, ist vom Exekutivföderalismus
geprägt, in dem die Mitgliedsstaaten von ihren Regierungen vertreten sind, und auch bei ihr ist
der Vollzug ihrer Gesetze Sache der Einzelstaaten.

Lernen aus Erfahrung

Sieben Lehren glaubt Haardt aus der Geschichte des Kaiserreichs daher für die Union ziehen zu können. Erstens: eine Verteidigungsgemeinschaft ohne volle Integration der Einzelheere ist möglich. Zweitens: die Hegemonie eines einzelnen Staates, damals Preußen, heute womöglich Deutschland, schadet einem föderalen Gemeinwesen. Drittens: eine Verfassung als einheitliches Dokument, ausgearbeitet von einer Volksversammlung, nicht von Regierungen, besitzt Vorzüge. Viertens: eine zentrale Schnittstelle im komplexen Institutionengefüge, damals der Reichskanzler, künftig womöglich ein direkt gewählter Kommissionspräsident, kann den einzelnen Politiker, der sie bilden muss, überfordern; verteilte Ver-
antwortung hat Vorteile. Fünftens: Ein mächtiges Verfassungsgericht zur Auslegung der Verfassung ist wichtig; das Kaiserreich besaß keines, nur nachrangige Fragen gingen ans Reichsgericht, die wichtigen Rechtskonflikte wurden politische Konflikte; der europäische Gerichtshof heute streitet mit den nationalen Verfassungsgerichten um den Vorrang. Sechstens: Föderalismus ohne volle Volkssouveränität als Basis
und volle Demokratisierung gerät in Widersprüche. Siebtens: Die politische Elite muss
den Föderalismus als Eigenwert, nicht nur als taktisches Zugeständnis anerkennen.

Freilich gilt, so Haardt: historische Erfahrung gibt Denkanstöße, keine Handlungsanweisungen; dafür ist sie zu sehr kontextgebunden. Und: Verfassungen entstehen nicht freischwebend im idealen Raum, sondern oft in historischen Ausnahmesituationen, bilden Machtverhältnisse und Interessen ihrer Zeit ab. Damit ist zu rechnen; Offenheit, Entwicklungschancen des Föderalismus wäre daher der Vorzug zu geben vor einem Übermaß an Starrheit.

Christian Roth 

Zum Weiterlesen. Buch des Referenten: „Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreiches.“ Erschienen bei wgb Theiss, 2022.

Historische Einsichten in föderale Verfassungsstrukturen