Oft ist die Sicht auf eine Thematik oder ein Problem beschränkt durch die Scheuklappen der nationalen und lokalen Diskussion. Eine Außenperspektive birgt stets die Chance neue Sichtweisen und Argumente in einen Diskurs zu tragen. Durch das Semesterthema bot sich die Möglichkeit an die Luxemburger Perspektive zu Rate zu ziehen. Charles Goerens MdEP konnte uns durch seine Erfahrung als Mitglied der Exekutive und Legislative in seiner Heimat und Europa in Vortrag und Diskussion unterstützen. Nach seinem Studium der Agrarwissenschaften war er für seine liberale Demokratesch Partei in vielen Legislaturen Abgeordneter und Minister verschiedener Ressorts.
Die politische Situation Europas hat sich in den letzten Jahren zugespitzt. Verschiedene Krisen blieben ungelöst und stauten sich zu einem ständigen Zustand der Polykrise an. Die EU, in ihrer Essenz als Staatenbund, ist zusehends von diesen Problemen bedroht. Am schwersten wiegen, so Goerens, drei davon. Die Schulden- und Eurokrise schwächt das internationale Vertrauen in die Wirtschaft der Gemeinschaft und hemmt jegliches Wirtschaftswachstum. Ein Spalt tut sich auf zwischen den stärkeren und schwächeren Staaten, der Neid und Ressentiments schafft, die auf Jahrzehnte anhalten werden. Zusätzlich hat der Alleingang von Dr. Merkel in der Flüchtlingspolitik einen weiteren Keil zwischen die Nationen geschlagen. Einige wenige, angeführt von Deutschland, nahmen große Zahlen an Einwanderern auf und wandten sich erst danach mit der Erwartung an ihre Nachbarn, an dieser humanitären Notsituation mitzuhelfen. Damit zusammen hängt das dritte große Problem, der fehlende Wille und die fehlende Vision der Zusammenarbeit auf nationaler und supranationaler Ebene. Die gemeinsamen Institutionen sind schwach und gemeinsame Strategien werden kaum verabredet. Die Union könne ihre Probleme nicht überwinden und an ihnen wachsen, wenn Herausforderungen nicht mit Kooperation, sondern mit Konfrontation beantwortet werden.
Denn ein Europa im Zustand der Schwebe zwischen Macht und Machtlosigkeit, ein Europa in das große Erwartungen, aber keine Mittel gesetzt werden, kann keine Krise lösen ohne an seine Teilstaaten zu appellieren. Europa befindet sich, so die Diagnose, in einer Krise der Zusammenarbeit, die in der hausgemachten Polykrise mündete. Eine Lösung ist nur in radikal nationalen Lösungswegen zu suchen, oder in einer Etablierung einer wirklichen Schicksalsgemeinschaft. In der Eurokrise war eine Transferunion nötig, aber gegen die Nationen nicht durchsetzungsfähig. Da ein Transfer zur Abwendung vom Kollaps trotzdem nötig blieb, wurde dieser an Bedingungen geknüpft, wurden die Empfänger einiger Selbstbestimmung beraubt, was die erste Spaltung in Nord und Süd hervorrief. Dieser Kompromiss zwischen nationalen und supranationalen Interessen war also weder sinnvoll noch produktiv. Ähnlich belastete die Uneinigkeit in der Flüchtlingskrise die europäischen Verhältnisse. Für die wenigen Aufnahmeländer wäre die Integration von den zugewanderten Millionen eine schwierige Aufgabe, für die Gesamtheit der EU eine Leichtigkeit.
Goerens Antwort auf diese Krise der Zusammenarbeit sind ambitioniertere Ziele für die Brüssler Beamten. Nur eine starke Europäische Union mit eigenen Kompetenzen könne den vergangenen und zukünftigen Herausforderungen entgegentreten. Eine echte
Solidargemeinschaft würde nicht zuletzt durch eine soziale Dimension der Zusammenarbeit einen neuen Zusammenhalt erwirken. Addiert mit einem gestärkten Parlament könnte die Union neues Vertrauen schaffen durch ein Ende der Unfähigkeit durch kleine Kompetenzen. Diese Ziele können jedoch nur in ständigem Kampf für eine gemeinsame europäische Demokratie errungen werden. Passend endet so der Abend mit einem Aufruf an uns Bürger mit diesen Vorschlägen selbst gegen die Polykrise aktiv zu werden.